Newroz und seine Bedeutung
Von Fikrat Safar
Das kurdische Neujahrsfest Newroz, das am 21. März gefeiert wird, ist aus dem Widerstandsgeist des kurdischen Volkes entstanden und symbolisiert diesen bis heute. „Newroz“ heißt wörtlich „der neue Tag“ und hat sich aus den Wörtern „nu“ (neu) und „roj“ (Tag) über „nur“ und „nuroz“ zu „newroz“ entwickelt. Als Fest der Wiedergeburt erlangte es zuerst bei den Kurden Bedeutung und wurde dann später auch von anderen iranischen Völkern übernommen. Kurden, Afghanen, Perser, Belutschen, Tatschiken u. a. feiern heute dieses Fest, das sie alle um ihre eigenen nationalen Bräuche bereichert haben. Das Newrozfest ist wahrscheinlich das älteste kurdische Fest. Es wurde erstmals 612 v. Chr. in den Kusi- und Med-Reichen gefeiert und jährt sich damit dieses Jahr zum 2605. Mal. Newroz wurde und wird als Beginn eines neuen Jahres, wenn der Winter vorbei ist und dar Frühling kommt, gefeiert. Der harte kurdische Winter, der insbesondere für die in abgelegenen Bergdörfern lebenden Menschen eine schwere Zeit bedeutet, ist vorüber, die Tiere erwachen aus ihrem Winterschlaf, die Blumenwelt erblüht und die prallen Wasserfälle, Bäche und Flüsse rauschen wieder und geben damit der paradiesischen Landschaft Kurdistans ihr typisches Aussehen. Die Menschen fühlen sich wie neu geboren und schöpfen neue Kraft für ihr hartes Leben.
Das Newrozfest in der Literatur
Es wurde bereits viel über den mythologischen, volkskundlichen und in neuerer Zeit insbesondere über den politischen Hintergrund des Newrozfestes geschrieben. Dadurch, dass sich mit der Zeit das Wissen des kurdischen Volkes über das Newrozfest vergrößerte, wurde auch der Inhalt des Festes ständig bereichert. Vor allem alte Bücher enthalten viele wertvolle Hinweise auf Newroz. In dem heiligen Buch „Zend Avesta“ des Zerdescht (Zarathustra)-Glaubens, einer der ältesten Religionen der iranischen Völker, wird über ein Frühlingsfest berichtet. Man kann mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es sich bei diesem Frühlingsfest um das Newrozfest handelt, denn die Yesidi-Kurden, die nach wie vor Anhänger dieses Glaubens sind, feiern noch heute das „Cemayi“, das dem Newrozfest sehr ähnlich ist.
Im Jahr 999 schrieb der berühmte Historiker Firdewsi ein Epos, welches unter dem Namen „Shanamey Firdewsi“ bekannt wurde. Er berichtet dort ausführlich über das Newrozfest und die Kurden. Auch das Werk „Newrozname“ von Omar Chayam schildert das Newrozfest. Das Gleiche gilt für das 1597 erschienene Buch „Scherefname“ von Bitlis Scherefxan über die Geschichte der Kurden und Osmanen. Das Epos „Mem u Zin“ von Ehmade Xani beschreibt ebenfalls, wie Newroz von den Kurden gefeiert wird und wie die Kurden mit dem Einzug des Frühlings zu neuem Leben erwachen.
Mythologie des Newrozfestes
Zum mythologischen Hintergrund des Newrozfestes ist zu bemerken, dass die unterschiedlichen Auslegungen über die Ursprünge von Newroz darauf zurückzuführen sind, dass die Menschen in den verschiedenen Gegenden des Landes das Fest um ihre jeweils eigenen Bräuche erweitern und damit bereichern, sodass sich natürlich unterschiedliche Entwicklungen ergeben. Die eigentliche Geschichte des Newrozfestes in seiner noch heute gültigen Bedeutung als Symbol des Widerstands geht zurück auf den Tag. als sich das Volk von der Unterdrückung des grausamen Herrschers Dehok befreite.
Die Legende erzählt, dass Dehok, der sogar seinen Vater umbrachte, sich durch die Ermordung des damaligen Herrschers Camsid an die Macht gebracht hatte. Eines Tages wuchsen ihm zwei Schlangen aus seinen Schultern. Verzweifelt bat er Ärzte und Weisen aus dem ganzen Land um Hilfe. Einmal wurde ihm empfohlen. er solle die Schlangen täglich mit den Gehirnen von zwei jungen Menschen füttern, das würde sie vielleicht töten. So gab Dehok seinen Wächtern den Befehl, täglich zwei junge Menschen umzubringen. Hass und Abscheu regten sich unter dem Volk, doch es war wehrlos. Dank einiger mitfühlender Wächter des Dehok, unter ihnen Ermayil und Kermayil, wurden jeden Monat 30 junge Menschen vor dem grausamen Tod bewahrt, indem man den Schlangen statt zwei Menschenhirnen ein Schafshirn und ein Menschenhirn zum Fressen gab.
Hunderte mussten in die Berge flüchten. Nach dem Epos „Shanamey Firdewsi“ bildeten diese Menschen, die die freie Luft der Berge atmeten, den möglicherweise ersten kurdischen Stamm. Kawa, der bekannte Held der Newroz-Mythologie, brach eines Tages das Schweigen des Volkes und organisierte den Widerstand gegen die Despotenherrschaft. Der weitaus seltener genannte Feridun beteiligte sich ebenfalls am Volksaufstand – aus Rache, weil sein Vater dem Tyrann geopfert worden war. Und nach der „Shanamey Firdewsi“ war er es, der Dehok umbrachte, indem er Nägel in seinen Kopf schlug, die in das Gehirn eindrangen. Die eigentliche Heldenrolle kommt jedoch Kawa zu, denn ihm gelang es, das Volk zum Widerstand zu bewegen und es so zu befreien. Der Sturz des Dehok machte der Grausamkeit und dem Leid ein Ende. Aus der Freude, diese harte Zeit überwunden zu haben und aus dem Bedürfnis heraus, dieses große Ereignis zu feiern, wurde das Newrozfest geboren. Es gibt eine bemerkenswerte Parallele zwischen der damaligen und der heutigen Situation des leidgeprüften kurdischen Volkes. Dehok verkörpert die kolonialistischen Unterdrücker der Gegenwart und Kawa nach wie vor den revolutionären Kampf der Kurden. Das ist auch der Grund, aus dem keine Macht der Welt das Newrozfest verdrängen kann. Es wird ewig als Tradition bewahrt bleiben.
Wenn Newroz naht, werden in Kurdistan große Feuer entzündet. Da Kawa, um das Eisen zu schmieden, mit dem er zum Kampf aufrief, Feuer brauchte, wurde dieses Feuer zu einem wichtigen Symbol für Newroz. Auch soll Kawa nach der Befreiung des Volkes auf einen hohen Berg gestiegen sein und dort ein großes Feuer entzündet haben, um den Sieg zu verkünden. Auch in dem heiligen Buch „Zend Avesta“ des zarathustrischen Glaubens hat das Feuer eine große Bedeutung. Damit steht dieser alte kurdische Glauben mit seiner positiven Einstellung zum Feuer im Gegensatz zum Islam und auch zum Christentum, in denen das Feuer die Hölle symbolisiert.
Heute verkörpern die lodernden Flammen den Kampf und die Sehnsucht des kurdischen Volkes nach Freiheit. Dass während der Newrozzeit überall in Kurdistan Feuer entzündet werden, zeugt vom ungebrochenen Verlangen des kurdischen Volkes nach Unabhängigkeit.
Die politische Bedeutung von Newroz heute
Der antikolonialistische Widerstand in Kurdistan hat im 20. Jahrhundert stark zugenommen. Deshalb versuchen die Kolonialmächte alles, um das Volk zu unterdrücken. Sie verbieten seine kulturellen Besonderheiten, betreiben eine intensive Assimilationspolitik und halten das Land bewusst unterentwickelt. Sie dulden nicht, dass das Volk das Newrozfest in seiner ursprünglichen Bedeutung feiert. In der Türkei ist es sogar ganz verboten. Frei konnte Newroz vor den Ereignissen der letzten Jahre nur 1946 in der kurdischen Republik Mahabad in Ostkurdistan („Iranisch“-Kurdistan), sowie in Südkurdistan („Irakisch“-Kurdistan) 1958, als die bürgerlichdemokratische Revolution gesiegt hatte, und in der Zeit der Autonomieverwirklichung 1970-1974 gefeiert werden. Damals wurde Newroz zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Dieser Feiertag blieb zwar auch nach der kurdischen Kapitulation 1975 erhalten, jedoch wurde ihm seine Bedeutung als Newroz-Tag genommen, indem man ihn in „Fest des Baumes“ umbenannte, um von Newroz abzulenken und dessen Inhalt zu zerstören. Trotz aller Verbote feiern die Kurden das Newrozfest und erfüllen es mit dem Geist der nationalen Befreiung. Die politischen Inhalte gewinnen dabei immer mehr an Bedeutung.
In jüngster Zeit war Newroz immer wieder mit Tragödien und Niederlagen, aber auch mit dem Sieg der Freiheit und mit Hoffnung verbunden. So bombardierte die irakische Luftwaffe zur Newrozzeit des Jahres 1988 die kurdische Stadt Halabja mit international verbotenen Chemiewaffen. 5.000 Zivilisten wurden dabei getötet, weitere Tausende verwundet.
1991 kam es zur Newrozzeit zu einem großen Volksaufstand in Südkurdistan („Irakisch“-Kurdistan), in dessen Folge es den Kurden gelang, große Teile ihrer Heimat zu befreien. Erstmals seit 1975 konnte dort wieder frei Newroz gefeiert werden. Doch Freude und Freiheit währten nicht lange. Ende März startete der irakische Diktator Saddam Hussein eine Großoffensive und vertrieb ca. vier Millionen Kurden aus ihren Städten und Dörfern in Richtung iranische und türkische Grenze. Das Newrozfest 1992 stand unter dem Zeichen der bevorstehenden ersten freien Wahlen in Kurdistan, die am 19. Mai abgehalten wurden. In diesem Jahr 1993 nun wird Newroz erstmals in dem föderalen Staat Irakisch-Kurdistan gefeiert werden, der am 4. Oktober 1992 von dem frei gewählten kurdischen Parlament ausgerufen wurde.
Dagegen werden aus Nordkurdistan („Türkisch“-Kurdistan) voraussichtlich auch in diesem Jahr wieder schlechte Nachrichten zur Newrozzeit erwartet. Denn die Kurden in diesem Teil von Kurdistan werden auch 1993 am 21. März wieder ihr Newroz begehen und der Menschen gedenken, die letztes Jahr zu Opfern der Staatsgewalt wurden, als die friedlichen Feiern mit Panzern niedergeschlagen wurden.
Die türkische Armee und die Sicherheitskräfte werden wieder versuchen, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die Feiern zu verhindern, womit eine erneute Tragödie vorprogrammiert ist.
Doch trotz der viel zitierten Uneinigkeit, die unter den Kurden in mancherlei Hinsicht herrschen mag, verbindet sie doch eine Hoffnung, die ihnen niemand wegnehmen kann: die Hoffnung, dass das kurdische Volk den Winter gut überstehen wird und in allen Teilen Kurdistans ein freies und vor allem friedliches Newrozfest feiern kann.
In diesem Sinne begehen auch die Kurden im Ausland – Arbeitsemigranten, Studenten, Asylbewerber – das Newrozfest, denn sie wollen die Tradition bewahren und ihre Solidarität mit ihrem Volk daheim in Kurdistan zum Ausdruck bringen.
Kurdistan heute Nr. 4, Februar/März 1993