Migration
Im Lauf ihrer Jahrhunderte lang turbulenten Geschichte sind die Kurden wiederholt massiv verfolgt worden, bis hin zur staatlich organisierten Deportation. Die Entstehung der kurdischen Diaspora in Europa – besonders in Deutschland – ist hingegen ein neues Phänomen, obwohl die Einwanderungsgeschichte bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreicht. Damals handelte es sich bei den kurdischen Einwandern um eine kleine Elite, in der Regel Söhne wohlhabender Familien, die als Händler oder Studierende nach Deutschland und Westeuropa immigrierten. Die überwiegende Mehrheit der Kurden kam ab Beginn der sechziger Jahre als „Gastarbeiter“ aus der Türkei nach Deutschland, in die Benelux-Staaten, nach Österreich, in die Schweiz oder nach Frankreich. Hauptmigrationsziel blieb auch nach dem Anwerbestopp von 1973 die Bundesrepublik. Im Rahmen der Familienzusammenführung folgten zahlreiche kurdische Familien ihren Angehörigen.
Die Islamische Revolution im Iran (1979), der Militärputsch von 1980 in der Türkei, kriegsähnliche Zustände und die Ausrufung des Ausnahmezustandes in den kurdischen Gebieten sowie Ausrottungskampagnen (sog. Anfal-Kampagne) des irakischen Regimes unter Saddam Hussein leiteten die verstärkte Flucht von Kurden aus diesen Staaten nach Deutschland ‑ und in geringerem Ausmaß in die anderen Staaten Westeuropas ‑ ein. Diese politisch verfolgten Kurden kamen in aufeinanderfolgenden Wellen vorrangig aus der Türkei und suchten Asyl. Durch die prekäre Situation in den Herkunftsstaaten hat die Einreise von politisch verfolgten Kurden nach Deutschland und Europa nicht nachgelassen. Nach Aussage des Bundesinnenministers handelte es sich Mitte der 90er Jahre bei rund 80 Prozent der Asylbewerber in Deutschland um Menschen aus den kurdischen Gebieten.
Beide Gruppen, mittlerweile verstärkt durch die zweite und dritte bereits in der Bundesrepublik geborene Generation, bilden mit über 600.000 Menschen eine der größten Zuwanderergruppe in der Bundesrepublik. Ihre Existenz dringt erst seit den 90er Jahren verstärkt ins öffentliche Bewusstsein. Auch wenn es sich in der öffentlichen Wahrnehmung auch oft anders darstellt, handelt es sich bei 80-90 Prozent der in Deutschland lebenden Kurden um ehemalige Arbeitsmigranten und deren Nachkommen. Ein wachsender Teil verfügt inzwischen über die deutsche Staatsangehörigkeit. Auch die selbständige Erwerbstätigkeit der kurdischen Bevölkerungsgruppe ist in Deutschland erheblich angewachsen. Kurdinnen und Kurden stellen einen bedeutenden Anteil der Unternehmensgründer und schaffen Arbeitsplätze.
Von der rechtlichen Stellung her lassen sich die Kurdinnen und Kurden in der Bundesrepublik somit prinzipiell in folgende Gruppen einteilen: Arbeitsmigranten und ihre Angehörigen, Flüchtlinge und Asylbewerber, Asylberechtigte und zeitlich begrenzt Eingereiste sowie Kurden mit deutschem Pass. Die Arbeitsmigranten verfügen in der Regel über eine Aufenthaltserlaubnis oder –berechtigung. Ähnliches gilt für Asylberechtigte.
Man muss davon ausgehen, dass die Mehrheit der Arbeitsmigranten aus der Türkei sich zum Zeitpunkt ihrer Einwanderung vorwiegend öffentlich als „Türken“ definierte, obwohl sie im häuslichen Privatbereich an der Pflege kurdischer Traditionen und Sprache festhielten. Sie standen zum Zeitpunkt ihrer Einreise unter dem Eindruck der türkischen Assimilationspolitik, die die Existenz des kurdischen Volkes negierte und hatten ihr Land zu einem Zeitpunkt verlassen, zu dem keine starke kurdische Nationalbewegung in der Türkei existierte.
Diese Selbstidentifikation hat allerdings im Laufe der Jahrzehnte einen Wandel durchlaufen. Durch den Freiraum, der sich in der Bundesrepublik bot, war es vielen der Kurden erst möglich, ihre Kultur offen zu pflegen und ihre Identität als Kurden neu zu entdecken. Zudem wirkte sich der Kontakt zu Kurden aus anderen Herkunftsstaaten, deren Nationalgefühl bereits entwickelt war, auf ein verändertes Selbstbild aus. Dieser Prozess erhielt ab den 80er Jahren besondere Dynamik. In den 60er und 70er Jahren organisierten sich viele Kurden in der Türkei in linken Parteien, unter deren Dach sie eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft anstrebten. Dabei ordneten sie die Kurdenfrage ideologischen Fragen unter.
Dies führte jedoch zu keiner großen Verbesserung der Situation der Kurden in der Türkei. Gleichzeitig entwickelte sich zunehmend ein eigenständiges kurdisches Bewusstsein und eine stärker werdendes Engagement der Kurden im gesellschaftlichen Veränderungsprozess. Dieser Trend wirkte sich auch auf Gruppen im Exil aus, insbesondere durch den Kontakt zu kurdischen Oppositionellen, die in Deutschland Schutz vor Verfolgung suchten.
Auch die kriegerischen Ereignisse in den Herkunftsstaaten, mit denen die kurdischen Migranten indirekt über die Medien oder durch Berichte von Freunden und Familienangehörigen konfrontiert wurden, führten zu Solidarisierungseffekten und einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl und prägten das kollektive Bewusstsein.
Die kurdische Diaspora spielt somit eine wichtige kulturelle und politische Rolle. Sie gibt Impulse für die Entwicklung der kurdischen Schriftsprache, kurdischer Literatur und Musik, die in der Türkei immer noch unterdrückt werden. Politisch trägt sie zur Entwicklung eines Nationalbewusstseins der Kurden bei und informiert die westliche Öffentlichkeit über das Schicksal der Kurden in den verschiedenen Ländern, in denen sie verfolgt werden. Zur besseren Integration der Kurden in ihren Aufnahmeländern trägt sie nicht nur durch das Engagement von Kurdinnen und Kurden als Schriftsteller, Journalisten, Künstler und Musiker bei, sondern auch und gerade durch das Engagement in den politischen Parteien. Kurdinnen und Kurden sind als Parlamentsmitglieder auf allen politischen Ebenen der Aufnahmeländer vertreten.
Langfristig können von der kurdischen Diaspora und den kurdischen Migrantenselbstorganisationen durch die Zusammenarbeit mit Verbänden der Migranten aus der Türkei, Syrien, Irak und Iran auch politische Impulse für die Lösung des Kurdenkonflikts erwartet werden. Das gemeinsame Interesse an einer besseren Integration in der Bundesrepublik dürfte auch Impulse für die Politik in den genannten Ländern geben.
Die Existenz der großen in Deutschland lebenden kurdischen Migrantengruppe muss Eingang finden in die Diskussion um Migration und Integrationsfragen und in den interkulturellen Dialog. Eine Integrationspolitik kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie auch die Lebensbedingungen ihrer Zielgruppe berücksichtigt. Sie muss die spezifischen Probleme und Herausforderungen kennen, denen sich diese gegenüber sieht. NAVEND teilt somit die Auffassung der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung: „Gesellschaftliche Integration setzt im Wesentlichen zweierlei voraus: zum einen die wechselseitige Akzeptanz und Toleranz zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen; zum anderen Chancengleichheit bzw. Gleichhandlung in allen wichtigen Bereichen von Gesellschaft und Wirtschaft: in Arbeitsmarkt und Beschäftigung, Bildung und Ausbildung, beim Wohnen und bei den Angeboten sozialer Dienstleistungen und bei kulturellen und Freizeitaktivitäten. Deshalb muss sich Integrationspolitik, muss sich staatliches Handeln vor allem auf die Herstellung von Rechts‑ und Chancengleichheit und den Abbau von Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit richten.“