Afrin – vier Jahre türkische Besatzung
Seit dem 18. März 2018 ist Afrin (Syrien) von der Türkei okkupiert. Vor der Invasion („Operation Olivenzweig“) der türkischen Armee und ihrer islamistischen Verbündeten lebten in Afrin zu 90-95 % Kurdinnen und Kurden.
Das Gebiet galt zudem bis zum Angriff der Türkei als eine der letzten sicheren Zufluchtsorte für Binnenvertriebene in Syrien. In Afrin wurden seit der Besetzung ca. 350.000 Menschen vertrieben, ihre Häuser und Felder beschlagnahmt. Auch Kulturgüter wurden geplündert bzw. zerstört.
Inzwischen ist die große Masse der angestammten BewohnerInnen geflohen. Mittlerweile leben dort nur noch 25 % der ursprünglichen kurdischen EinwohnerInnen. Dabei handelt es sich zumeist um ältere Menschen.
In dem Gebiet findet eine ethnische Säuberung statt. In den von geflüchteten bzw. vertriebenen KurdInnen zurückgelassenen Häusern siedeln die türkischen Machthaber gezielt arabische und turkmenische Menschen an. Alles Kurdische wurde aus dem öffentlichen Leben getilgt. In den Schulen wird nur auf Arabisch und Türkisch unterrichtet, Ortsnamen und Bezeichnungen wurden arabisiert. Insbesondere in vormals ezidischen Siedlungsgebieten wurden und werden aus Mitteln islamistischer Stiftungen neue Häuser errichtet, um Wohnraum für neu angesiedelte Menschen (Turkmenen und sunnitische Araber) zu schaffen. Derzeit werden so ca. 18 Dörfer neu errichtet. Für die vormaligen EinwohnerInnen, die geflüchtet bzw. vertrieben sind, gibt es jedoch kaum Rückkehrmöglichkeiten. Und je länger die Besatzung anhält, umso schwieriger wird eine Rückkehr.
Darüber hinaus drangsalieren die islamistischen Söldner willkürlich die angestammte Bevölkerung. Fast täglich werden Zivilisten entführt.
Wo bleibt die internationale Staatengemeinschaft?
Diese Besetzung einer Region auf dem Territorium des souveränen Staats Syrien – ohne die Erlaubnis der syrischen Regierung – wird von Völkerrechtslehre und Praxis nahezu einhellig als völkerrechtswidrig beurteilt. Die Tatsache, dass die Besetzung inzwischen schon vier Jahre anhält und eine systematische Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung betrieben wird, unterstreicht dies noch.
Seitens der internationalen Staatengemeinschaft wurde jedoch allenfalls leise Kritik geübt und der völkerrechtswidrige Zustand faktisch hingenommen. Dies hat die türkische Regierung zu weiteren völkerrechtswidrigen Handlungen in Nordsyrien ermutigt: Mit der sog. „Operation Friedensquelle“, die im Oktober 2019 begann, besetzte die Türkei weitere Teile Syriens, insbesondere kurdische Siedlungsgebiete, und setzte ihre Vertreibungspolitik fort.
Nicht nur die westliche Welt, auch die Liga der arabischen Staaten (Arabische Liga) und die Organisation für islamische Zusammenarbeit (OIZ), verschließen die Augen und scheinen vor der Türkei zu kapitulieren. Dies ist beschämend und für die betroffenen KurdInnen dramatisch. Sie wurden von der Welt allein gelassen.
Dieses Unrecht einfach hinzunehmen, stellt die internationale Ordnung in Frage. Die internationale Staatengemeinschaft steht in der Pflicht, die Aggression der Türkei zu stoppen und den Rückzug der türkischen Armee aus dem Nachbarland Nordsyrien verlangen. Dies muss Gegenstand der Erörterung insbesondere innerhalb der UNO und der NATO werden. Es kann hier kein „weiter so“ geben. Die kurdische Zivilbevölkerung in Afrin muss geschützt, und eine ethnische Säuberung durch die Türkei muss verhindert werden. Plünderungen und willkürliche Festnahmen müssen sofort gestoppt und die Rückkehr von Vertriebenen muss unterstützt werden. Diesbezüglich könnte die Errichtung einer Schutzzone eine Option sein. Menschenrechtsverletzungen sowie andere Kriegsverbrechen durch die türkische Armee, islamistische Gruppen und andere Kriegsparteien müssen bestraft werden. Auch im Rahmen des Europarates müssten Maßnahmen gegen die Türkei diskutiert werden.
Von der neuen Bundesregierung erwarten wir zudem, dass vor diesem Hintergrund Waffenlieferungen und Rüstungsexporte an die Türkei konsequent eingestellt werden.