EGMR: Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch die Türkei im Fall Demirtaş
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) befasste sich am 20. November 2018 mit der Beschwerde des sich derzeit in der Türkei im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne in Untersuchungshaft befindenden kurdischen Politikers und Menschenrechtlers Selahattin Demirtaş (HDP).
In seiner Entscheidung kommt der EGMR zu dem Schluss, dass Herrn Demirtaş im mehreren seiner durch die EMRK gewährleisteten Rechte verletzt wurde. Der Gerichtshof stellte u.a. fest, dass die fortgesetzte Untersuchungshaft im Fall Demirtaş
- gegen Art. 5 Abs. 3 EMRK,
- gegen Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls der EMRK,
- gegen Art. 18 iVm. Art. 5 Abs. 3 EMRK
verstößt. Welche Rechtsverletzungen dokumentiert die Entscheidung des EGMR? Der ehemalige Co-Vorsitzende der pro-kurdischen HDP sitzt seit dem 4. November 2016 in Untersuchungshaft. Am 20. Februar 2017 reichten seine Anwälte Beschwerde beim EGMR ein und rügten dabei die Verletzung mehrere Rechte aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 EMRK erklärte der Gerichtshof, dass die Gründe für die Verlängerung der Untersuchungshaft von den türkischen Gerichten nicht nachvollziehbar begründet werden konnten. Insbesondere die von den nationalen türkischen Gerichten behauptete und vermutete Fluchtgefahr im Fall von Herrn Demirtaş war nach Ansicht des Gerichtshofs nicht hinreichend begründet worden. Darin erkannten die Richter eine Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK, wonach eine Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 c) EMRK mit dem Recht auf ein schnelles Verfahren einhergehen muss und bei fehlenden Haftgründen der Beschuldigte bis auf Weiteres freizulassen ist.
Weiterhin prüfte der EGMR erstmalig Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls der EMRK (Recht auf freie Wahlen) in Bezug auf die Auswirkungen einer fortgesetzten Untersuchungshaft eines gewählten Parlamentsabgeordneten im Hinblick auf seine parlamentarischen Pflichten. Hierzu stellte das Gericht fest, dass das Recht auf freie Wahlen nicht nur auf die Möglichkeit an parlamentarischen Wahlen teilzunehmen beschränkt sei. Vielmehr habe eine so gewählte Person auch das Recht im Parlament zu sitzen und seinen parlamentarischen Pflichten nachzukommen. Der EGMR kritisierte, dass alle türkischen Instanzen, die mit der Untersuchungshaft im vorliegenden Fall befasst waren, in ihrer Entscheidungsfindung nicht berücksichtigten, dass Herr Demirtaş nicht nur ein einfaches Mitglied des türkischen Parlaments, sondern vielmehr einer der politischen Oppositionsführer des Landes war, womit ein hohes Maß an Schutz für die Erfüllung bzw. Erfüllbarkeit parlamentarischer Pflichten einhergehe. Die Untersuchungshaft sei zudem eine bloß vorübergehende Maßnahme, weshalb sie stets so kurz wie möglich sein sollte. Alternative Maßnahmen zur Untersuchungshaft, die das türkische Recht durchaus vorsieht, wurden nicht hinreichend berücksichtigt und nachvollziehbar ausgeschlossen. Diese Feststellung traf bereits ein türkischer Verfassungsrichter in einem Minderheitsvotum in einer Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts, auf das der EGMR ausdrücklich Bezug nimmt. Der Gerichtshof kommt somit zu dem Schluss, dass die in Rede stehenden Maßnahmen einen ungerechtfertigten Eingriff in die freie Meinungsäußerung des Volkes und in das Recht von Herrn Demirtaş, gewählt zu werden und im Parlament sitzen zu können, begründeten.
Schließlich erkannte der Gerichtshof in den Maßnahmen der türkischen Justiz eine Verletzung des Art. 18 EMRK (Begrenzung der Rechtseinschränkungen) in Verbindung mit Art. 5 Abs. 3 EMRK. Hierzu führte der EGMR aus, dass bereits seit Jahren strafrechtliche Ermittlungen gegen Herrn Demirtaş stattfinden, gleichwohl aber bis zum Ende des Friedensprozesses zwischen den Kurden und der türkischen Regierung keine Schritte unternommen wurden, um seine parlamentarische Immunität aufzuheben. In Berichten und Stellungnahmen internationaler Beobachter, und insbesondere den Bemerkungen des Menschenrechtskommissars zufolge, sei darauf hingewiesen worden, dass das angespannte politische Klima in der Türkei in den letzten Jahren ein Umfeld geschaffen habe, das bestimmte Entscheidungen der nationalen Gerichte – insbesondere im Ausnahmezustand – beeinflussen könne. In diesem Zusammenhang stellten die Richter am EGMR fest, dass die verlängerte Inhaftierung von Herrn Demirtaş, insbesondere während zweier entscheidender Kampagnen, nämlich des Referendums und der Präsidentschaftswahlen, den vorherrschenden Zweck verfolgt hatte, den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Letztere Grundsätze seien aber Teil des Kerns einer demokratischen Gesellschaft, weshalb eine Verletzung des Art. 18 EMRK iVm. Art. 5 Abs. 3 EMRK vorliege.
Welche Bedeutung hat die Entscheidung des EGMR für die Türkei?
Am 5. November 1950 unterzeichnete die Türkei in Rom die Europäische Menschenrechtskonvention. Gem. Art. 46 EMRK haben sich die Hohen Vertragsparteien verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen.
Mit welchen Mitteln im Rahmen der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnungen die Urteile umgesetzt werden, obliegt grundsätzlich der Wahlfreiheit der betroffenen Staaten. Wenn allerdings eine festgestellte Verletzung ihrer Natur nach nur durch eine bestimmte Maßnahme beseitigt werden kann, so kann das Gericht diese Maßnahme anordnen.
Der EGMR kommt in seinem Urteil zu dem Schluss, dass eine Fortsetzung der Untersuchungshaft von Herrn Demirtaş zu einer Verlängerung der Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK und Art. 18 EMRK sowie zu einer Verletzung der Verpflichtung der Türkei, die Entscheidung des Gerichtshofs zu befolgen, führen würde.
Daher entschied der Gerichtshof, dass die Türkei dafür zu sorgen hat, dass Herr Demirtaş zum frühestmöglichen Zeitpunkt aus der Untersuchungshaft entlassen wird. Diese Entscheidung gilt unter dem Vorbehalt, dass keine neuen Gründe oder Beweise vorgelegt werden, die seine fortgesetzte Inhaftierung rechtfertigen würden. Die Überwachung der Durchsetzung des endgültigen Urteils erfolgt gem. Art. 46 Abs. 2 EMRK durch das sog. Ministerkomitee. Das Ministerkomitee ist das Entscheidungsorgan des Europarates und wird durch die Außenministerinnen und Außenminister der Mitgliedsstaaten gebildet.
Weitere Informationen hier: Presseerklärung des EGMR zum Urteil