Afrin seit bereits einem Jahr unter türkischer Besatzung
Im Zuge des Bürgerkrieges in Syrien haben sich die KurdInnen als eine eigenständige politische Fraktion im Konfliktgeschehen formiert.
Während große Teile Syriens vor dem Dilemma standen, entweder unter Kontrolle des Assad-Regimes oder aber unter die Kontrolle islamistischer Milizen zu fallen, konnten die KurdInnen für den Norden des Landes vergleichsweise demokratische und säkulare Selbstverwaltungsstrukturen etablieren und den Schutz religiöser und ethnischer Minderheiten garantieren.
Am 20. Januar 2018 begann die Türkei ihre militärische Offensive gegen die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete im Distrikt Afrin und konnte schließlich am 18. März 2018 den Ortskern der Stadt Afrin einnehmen und besetzen. Hierbei agierte sie mit der Unterstützung islamistischer Kämpfer. Der militärische Überfall und die Besetzung von offiziell syrischem Staatsterritorium wurden in der Völkerrechtslehre und Praxis weitestgehend einhellig als völkerrechtswidrig verurteilt. Auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestages bezeichnete die Militäroffensive, die die türkische Regierung zynischer Weise als „Operation Olivenzweig“ betitelt, als völkerrechtswidrige Handlung. In einem weiteren Gutachten für den Bundestag wird die Türkei in Syrien zudem völkerrechtlich als Besatzungsmacht klassifiziert.
Kurdischer Einsatz gegen den IS wird international nicht ausreichend gewürdigt
Zu Beginn der Militäroperation haben die örtlichen Akteure und internationale Menschenrechtsorganisationen auf die gravierenden Folgen einer türkischen Besatzungsmacht aufmerksam gemacht. Afrin galt bis zum Angriff durch die Türkei als einer der letzten sicheren Zufluchtsorte für Binnenvertriebene im Land. Aus Furcht vor Massakern flüchteten schließlich nach Besetzung des Ortskerns durch türkische Soldaten und islamistische Milizen Hunderttausende Menschen aus Afrin.
Die Reaktionen der internationalen Staatenwelt waren diesbezüglich eher verhalten. Und auch wenn es zu kritischen Worten in Richtung der Türkei kam, folgten diesen keine Taten, die Druck auf die Türkei hätten ausüben können. Eigentlich hatte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) bereits im März 2018 gesagt, dass die türkische Militäroperation „sicherlich nicht mehr im Einklang mit dem Völkerrecht wäre“, wenn türkische Truppen dauerhaft in Syrien bleiben würden. Und obwohl ein Gutachten des Bundestages genau diese Völkerrechtswidrigkeit nun feststellte, folgten auf die Worte des Bundesaußenministers keine Taten.
Dabei sind es ebenjene KurdInnen, die bis dato als Bodentruppen der Anti-IS-Koalition fungieren. Dass der IS in Syrien über keine nennenswerten Gebietskontrollen mehr verfügt, ist den Tausenden KämpferInnen der YPG und ihren Verbündeten zu danken, die hierbei zu Hunderten ihr Leben ließen. Allerdings wird der Einsatz gegen den IS international nicht ausreichend gewürdigt.
Skandalöse Siedlungspolitik der Türkei
Bereits vor ihrem Angriff negierte die türkische Regierung den Fakt, dass die Bevölkerung Afrins sich mehrheitlich aus KurdInnen zusammensetzt. Dabei werden Gebietsteile von Afrin im Volksmund auch als „Berg der Kurden“ bezeichnet. Mit der Besetzung des Distrikts von Afrin hat die Türkei begonnen, die Bevölkerungszusammensetzung Afrins durch die Ansiedlung von sunnitischen Arabern systematisch zu verändern. Bei den angesiedelten Menschen handelt es sich hauptsächlich um die Familien der islamistischen Kämpfer, die die Türkei bei ihrem Angriff unterstützten.
Innerhalb eines Jahres sorgte die türkische Besatzungsmacht für den Abriss von 32 Schulen in Afrin. Insgesamt 318 Schulen, Institute oder Universitäten wurden geschlossen. Die Schulen, die weiterhin betrieben oder neu errichtet werden, führen Arabisch und Türkisch als Unterrichtssprache. Ganze Ortschaften wurden kurzerhand umbenannt und erhielten arabische oder türkische Namen. Denkmäler der lokalen Bevölkerung wurden eingerissen. Die Türkei setzt insofern ihre rigide Türkifizierungspolitik gegen die KurdInnen in Syrien fort. Alles Kurdische wird aus dem öffentlichen Leben getilgt.
Abzug des türkischen Militärs und Rückkehr der lokalen Bevölkerung erforderlich
Die militärischen Angriffe gegen die KurdInnen in Afrin und die aktuell ein Jahr andauernde Besetzung Afrins durch das türkische Militär stellen gravierende Verstöße gegen das Völkerrecht dar. Je länger dieser rechtswidrige Zustand aufrechterhalten wird, desto schwieriger wird sich eine mögliche Rückkehr der vertriebenen Menschen in ihre Wohnungen und Häuser gestalten. Daher muss das türkische Militär umgehend aus Afrin abziehen und alle weiteren Siedlungsmaßnahmen müssen umgehend unterbunden werden. Da nicht zu erwarten ist, dass die Türkei dies ohne entsprechenden Druck der internationalen Staatenwelt tut, ist genau diese nun gefragt, eine deutliche Reaktion hervorzubringen. Andernfalls ist dies als moralische und rechtliche Bankrotterklärung der Staatenwelt anzusehen.