Kirkuk von irakischer Armee besetzt – Tausende Kurden auf der Flucht
Nach dem Unabhängigkeitsreferendum der autonomen Region Kurdistan am 25. September 2017, bei dem 92,7% der kurdischen Bevölkerung für einen eigenen Staat stimmten, droht der Konflikt mit dem Irak sowie den Anrainerstaaten Iran und Türkei zu eskalieren.
Auf die vorhergegangenen Einschüchterungsmanöver und militärische Mobilmachung folgte nun am 16. Oktober der Einmarsch der irakischen Regierungstruppen und der verbündeten vom Iran gesteuerten schiitischen Miliz „Hashd al-Shaabi“ in die strategisch wichtigsten Städte der Region Kirkuk und Sindschar. Die kurdischen Peschmerga waren angesichts der iranischen Unterstützung (Beteiligung Quds-Brigaden bzw. der Pasdaran) und der durch US-Waffen ausgerüsteten irakischen Armee zum Rückzug gezwungen.
Diese Städte liegen zwar nicht rechtlich, aber faktisch innerhalb des Hoheitsgebietes der autonomen Region Kurdistan. Die Bewohner/innen mussten durch Angriffe des Islamischen Staates (IS) schlimmste Gräueltaten erleben, während die irakische Armee flüchtete und dem IS ihre Waffen überließ. Die Gebiete wurden später durch die kurdischen Peshmerga befreit.
Kirkuk, bekannt durch seinen Ölreichtum und als „historisches Herz Kurdistans“, ist eine mehrheitlich von Kurden bewohnte Stadt, deren Arabisierung unter der Herrschaft von Saddam Hussein betrieben wurde. Nach dem Sturz von Saddam Hussein sah die irakische Verfassung vor, dass ein Referendum über den Status Kirkuks abgehalten werden sollte. Die irakische Regierung hatte dies jedoch bisher abgelehnt. An dem Unabhängigkeitsreferendum am 25. September 2017 nahmen auch die Einwohner/innen von Kirkuk teil und stimmten mehrheitlich für eine Unabhängigkeit.
In Sindjar (Shengal) leben vor allem ezidische Kurden; diese Region wurde der Weltöffentlichkeit durch den Genozid des IS an den Eziden bekannt.
Es gibt zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung, und Tausende von Kurden befinden sich inzwischen auf der Flucht. Nach jüngsten Berichten ist es von irakischer Seite zu Gräueltaten an Zivilisten in Tuz Khurmatu und Kirkuk gekommen. Auch wurde bekannt, dass vor kurzem Aufstände in verschiedenen kurdischen Städten (Khanaqin, Kirkuk, Sindjar) ausbrachen, woraufhin sich die irakischen Milizen teilweise zurückziehen mussten. Die irakische Seite heizt den Konflikt weiter an. So hat ein irakisches Gericht einen Haftbefehl gegen den Vizepräsidenten (Khosret Rasul) der Region Kurdistan-Irak (und zugleich 1. Vize-Generalsekretär der PUK) erlassen, weil dieser die irakischen Truppen und Milizen als Besatzer bezeichnet hat.
NAVEND – Zentrum für kurdische Studien e.V. in Bonn verurteilt den Angriff der irakischen Armee aufs Schärfste: Wir fordern den Abzug der irakischen Truppen und Milizen aus Kurdistan. Mit großer Sorge beobachten wir die massenhafte Flucht der kurdischen Bevölkerung aus ihrer Heimat in die Städte Hewler (Erbil) und Suleymaniye. In dieser brisanten Lage sind die Bundesregierung und die Vereinten Nationen gefragt den Angriff zu verurteilen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen.
Eine weitere Eskalation des militärischen Konflikts würde die autonome Region, die sich in der Vergangenheit als Hafen der Stabilität und Sicherheit im Nahen Osten erwiesen hat, nachhaltig gefährden. Zwei Millionen Flüchtlinge, die dort eine Zuflucht fanden, würden erneut vom Krieg bedroht und möglicherweise eine gewaltige Fluchtbewegung nach Europa auslösen.
Die Beschwichtigungspolitik der Vereinten Nationen und die zahlreichen Appelle an die irakische Regierung, einen gewaltsamen Konflikt mit allen Mitteln zu vermeiden, wurden mit dem Beginn der irakischen Offensive obsolet. Die USA, die mit Hilfe moderner Waffen die irakische Armee aufgerüstet hat, kann sich nicht auf „Neutralität“ berufen, wenn sie sich nun auf eine Beobachterposition zurückzieht.
NAVEND e.V. fordert in dieser Situation, dass die internationale Gemeinschaft endlich Position bezieht und das Ergebnis des Unabhängigkeitsreferendums anerkennt. Vor dem Hintergrund des jahrelangen verlustreichen Einsatzes der Kurden im Kampf gegen den IS müssen sich Deutschland und die internationale Staatengemeinschaft endlich ihrer Verantwortung gegenüber der kurdischen Bevölkerung stellen. Kurdistan ist kein Destabilisator, sondern ein Garant für Frieden und Demokratie in einem zerfallenen Irak.
Dabei darf der „unteilbare Irak“ kein Dogma bleiben. Er entstand in den Grenzen, die von den Kolonialmächten Frankreich und England nach dem Ersten Weltkrieg ohne Rücksicht auf die lokalen Bevölkerungen in der Konkursmasse des untergegangenen Osmanischen Reiches gezogen wurden.
Von den USA und den anderen westlichen Staaten, sowie der UNO erwarten wir, dass sie sich nicht auf eine Zuschauerrolle beschränken, sondern sich für eine Vermittlung in diesem Konflikt einsetzen. Es sollte unter Beobachtung und Leitung durch internationale Organisationen ein Dialogprozess zwischen der kurdischen Regionalregierung und der irakischen Regierung eröffnet werden.